Gedenkstätte Stalag 326 weiterentwickeln

Gemeinsam für die Weiterentwicklung der Gedenkstätte Stalag 326 in Stukenbrock zu einem Geschichtsort von regionaler, nationaler und internationaler Bedeutung

„Politik gestaltet die Wirklichkeit im Heute für das Morgen und im Bewusstsein für das Gestern. Ohne Woher kein Wohin. Wir blicken nach vorne im Wissen sowohl um die geglückten Erfahrungen als auch um die Schuld und das Grauen in unserer Geschichte.“ Grünes Grundsatzprogramm 2020, S. 10

Nachdem auf der Grundlage des hohen Engagements von Initiativen, Einzelpersonen und Institutionen – stellvertretend durch den Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) – eine Machbarkeitsstudie erarbeitet, ein Förderantrag bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) gestellt und von dort positiv beantwortet wurde und auch die zuständigen Ausschüsse auf Ebene des Bundestags und des Landtags NRW zustimmende Beschlüsse gefasst haben, müssen die nächsten Schritte durch die staatlichen und kommunalen Ebenen vorbereitet und koordiniert gegangen werden. Nur wenn auf allen Ebenen – Bund, Land NRW, LWL und Kommunen – die dauerhaft notwendige finanzielle Unterstützung gesichert und tragfähige Strukturen für die inhaltlich-konzeptionelle Arbeit entstehen, wird die Gedenkstätte „Kriegsgefangenenlager Stalag 326“ zu einem Geschichtsort von regionaler, nationaler und internationaler Bedeutung entwickelt werden können. Die Grünen sehen in dem gegenwärtigen Prozess, der sowohl parteiübergreifend auf Ebene der Politik als auch im Dialog zwischen bürgerschaftlichem Engagement und wissenschaftlicher Forschung geführt wird, eine historische Chance. Die Mitglieder der Grünen in den jeweiligen Beteiligungsgremien von Bund, Land NRW, LWL, den Kreisen, Gemeinden und Städten Ostwestfalen-Lippes sowie aus der Zivilgesellschaft sehen sich in einer besonderen Verantwortung und sprechen hierbei mit einer Stimme. Gemeinsamer Bezugsrahmen ist das Grüne Grundsatzprogramm, das ein aktives Eintreten für Demokratie, gegen Rassismus und Menschenfeindlichkeit in den Mittelpunkt der politischen Arbeit stellt und in diesen Kontext die politisch-historischer Bildungsarbeit einordnet.[1]

Vor diesem Hintergrund sehen wir uns in politischer Mitverantwortung.

  1. Das Kriegsgefangenenlager Stalag 326 in Stukenbrock war eines der größten Lager für überwiegend sowjetische Kriegsgefangene und ein zentraler strategischer Baustein im Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten und ihres ausführenden Organs, der Wehrmacht, gegenüber den Sowjetischen Völkern („Unternehmen Barbarossa“). Rund drei von insgesamt 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen wurden während ihrer Gefangenschaft Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Sie starben an unmenschlichen Bedingungen der Zwangsarbeit in der deutschen Kriegswirtschaft, an Hunger, Krankheit, Unterversorgung und Gewalt im Lager. Das Stalag 326 mit bis zu 300.000 Gefangenen, überwiegend aus der Sowjetunion, die hier unter menschenverachtenden Bedingungen interniert und zu landesweiten Arbeitseinsätzen in der Kriegswirtschaft verteilt wurden, ist deshalb ein authentischer Geschichtsort, an den die Verantwortung gebunden ist, das Leid dieser Opfer und die Verantwortung der Täter, insbesondere der Deutschen Wehrmacht, im öffentlichen Bewusstsein wach zu halten.
  2. Über diesem Teil der deutschen Schuld liegt ein „Erinnerungsschatten“ (Bundespräsident Joachim Gauck, 2015). Sich aus diesem Schatten zu lösen, das Andenken der sowjetischen Kriegsgefangenen zu achten und Stalag 326 als Geschichtsort zu entwickeln, an dem die jetzt Lebenden herausgefordert werden, ihre eigene Position gegen Krieg, Rassismus und Menschenfeindlichkeit zu finden und zu stärken, ist Aufgabe unserer Generation.
  3. Die künftige Gedenkstätte Stalag 326 soll zu einem authentischen Geschichtsort mit regionaler, nationaler und internationaler Wirkung weiterentwickelt werden, der Raum und Möglichkeiten für Gedenken, Forschen und zukunftsgerichtete politisch-historische Bildung bietet. In einer Situation, in der die Zeitzeugengeneration auf Seiten der Opfer wie der Täter kaum noch oder gar nicht mehr direkt einbezogen werden kann, besteht die Herausforderung darin, neue Formen der generationenübergreifenden, interkulturellen und internationalen Vermittlung im Dialog zu entwickeln. Die Chance, mit dieser Arbeit eine Brücke zu den friedenspolitischen Akteuren in die osteuropäischen Staaten zu schlagen, soll bewusst genutzt werden.
  4. Eine enge Vernetzung mit den im Arbeitskreis NS-Gedenkstätten und -Erinnerungsorte in NRW zusammengefassten 29 Einrichtungen sowie den weiteren nationalen und europäischen Einrichtungen ist unverzichtbare Bedingung für die fachliche Qualität und politische Wirkung der Arbeit der erweiterten Gedenkstätte Stalag 326. Die Grünen setzen sich dafür ein, dass die Arbeit der bestehenden Einrichtungen gestärkt und ihre Mittelausstattung mit dem Projekt Gedenkstätte Stalag 326 nicht geschmälert, sondern verstetigt wird.
  5. Das Sichtbarmachen der verschiedenen Zeitschichten, die diesen Ort geprägt haben und bis heute prägen, ist wichtiger Bestandteil einer historisch-sachliche Einordnung. Im Zentrum steht die Darstellung des Unrechts und Leids, das die sowjetischen Kriegsgefangenen erfuhren. Die Dokumentation der Nachkriegsgeschichte (Stukenbrock als Internierungslager der britischen Besatzungsmacht für belastete Nationalsozialisten, später als Auffanglager für Geflüchtete, aber auch die Repatriierung der überlebenden Kriegsgefangenen und deren Ausgrenzung in der stalinistischen Sowjetunion ermöglicht politisch-historische Lernprozesse. Die Konfliktstruktur des Kalten Krieges und deren Resonanz in der Gedenkkultur gehört zu der Geschichte dieses Ortes.
  6. Die Thematisierung von ethnischer Verfolgung und Vernichtung in der (europäischen) Geschichte und Gegenwart (Genozide) soll das Verstehen der historischen Besonderheit der Versklavung und Vernichtung sowjetischer Kriegsgefangener im NS-Terrorstaat unterstützen und gleichzeitig aktuelle Bezüge herstellen und politisches Handeln einfordern.
  7. Die Orientierung an Fragestellungen, die für nachwachsende Generationen relevant sind, ist Voraussetzung für wirkungsvolle, auf Zukunft ausgerichtete politische Bildungsprozesse. Die Möglichkeiten digitaler Dokumentation und Präsentation, vernetzter Forschung und digitaler Vermittlung sind hierfür zu nutzen.

Für die erfolgreiche und nachhaltige Weiterentwicklung der Gedenkstätte Stalag 326 geben wir Anregungen.

  1. Politisch-historische Bildungsarbeit zielt auf zivilgesellschaftliches Engagement; sie wird und wurde auch immer wesentlich von zivilgesellschaftlichen Gruppen und Einzelpersonen getragen. Das gilt auch für den Geschichtsort Stalag 326. Der Verein Blumen für Stukenbrock e.V. und der Förderverein Gedenkstätte Stalag 326 e.V. haben durch ihren Einsatz die Erinnerung an das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangener über Jahrzehnte wachgehalten und damit Wege zur Versöhnung zwischen ehemals verfeindeten Staaten gezeigt. Grüne waren immer und verstehen sich auch heute als Teil dieses zivilgesellschaftlichen Engagements für eine wehrhafte Demokratie und gegen Rassismus und Menschenfeindlichkeit. Dazu gehört auch die Stärkung regionaler Erinnerungskultur. Die Grünen werden dieses Engagement fortsetzen und fordern, zivilgesellschaftliche Gruppen in die Entwicklung der Gedenkstätte Stalag 326 verbindlich einzubeziehen und damit für eine sichere politische Verankerung in der Region zu sorgen.
  2. Die Grünen bewerten das Engagement und die Offenheit auf der Ebene des Landtags NRW positiv und erwarten auch für den zukünftigen Betrieb der Gedenkstätte eine kontinuierliche Unterstützung (institutionelle Förderung, Projektförderung). Sie begrüßen das Engagement des LWL, der stellvertretend und federführend für die kommunalen Gebietskörperschaften den bisherigen Prozess der Weiterentwicklung der Gedenkstätte Stalag 326 vorangetrieben hat. Wir sehen den LWL federführend in der zukünftigen Trägerstiftung, setzen uns aber gleichzeitig dafür ein, dass die Kreise, Städte und Gemeinden Ostwestfalen-Lippes im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten gemeinsam ihre regionale Verantwortung als Stiftungsmitglieder wahrnehmen. Diese Verantwortung ist nicht an andere Ebenen delegierbar.
  3. Die Grünen setzen sich dafür ein, dass das Land NRW die für den Betrieb der Gedenkstätte notwendigen Flächen von der LAPF-Fläche (Polizeischule Erich Klausener) abtrennt und sie dauerhaft sowie kostenfrei zur Verfügung stellt. Der hierfür erforderliche Verfahrensweg soll zügig beschritten werden.
  4. Wir werben dafür, dass Unternehmen – insbesondere diejenigen bzw. die Nachfolger derjenigen, die maßgeblich vom Arbeitseinsatz der sowjetischen Kriegsgefangenen profitiert haben – ihrer historischen und politischen Verantwortung gerecht werden und sich an den investiven und laufenden Kosten der zukünftigen Gedenkstätte mit namhaften Beträgen beteiligen.
  5. Bund und Land sehen wir in der Verantwortung, für die Abdeckung der finanziellen Risiken des Betriebs einer national und international bedeutsamen Gedenkstätte Stalag 326 mit einzustehen. Hierzu bedarf es verbindlicher und langfristig angelegter Projektfinanzierung und institutioneller Förderung, damit die (kommunalen) Stiftungsmitglieder LWL, Kreise und Kommunen die mit dem Betrieb der Einrichtung einhergehende Finanzverantwortung dauerhaft tragen zu können.
  6. Die Grünen setzen sich dafür ein, den Geschichtsort Stalag 326 nicht nur als Ort der Erinnerung und der politisch-historischen Bildung, sondern auch als Ort international ausgerichteter wissenschaftlicher und multiperspektivischer Forschung und Begegnung zu entwickeln. Eine Idee einer Akademie nach Vorbild der “Villa Massimo“, in der junge Wissenschaftler*innen in mehrperspektivischem Dialog, und „vielsprachig“ den Fragen nachgehen, zu denen sie dieser Ort heute herausfordert, sollte gemeinsam mit den Hochschulen der Region weiter konkretisiert werden. Wenn der Geschichtsort Stalag 326 für die Zukunft Bedeutung haben soll, muss er zu einem Ort der aktiven Suche danach werden, was Einzelne, gesellschaftliche Gruppen und politische Systeme konkret zu einer Welt beitragen können, in der Rassismus und Menschenfeindlichkeit geächtet und aus der Geschichte notwendigen Konsequenzen für die Zukunft gezogen werden.

Die nächsten Schritte zur Weiterentwicklung der Gedenkstätte Stalag 326 wollen wir mit Umsicht, aber entschieden und zügig gehen.

  1. Die Machbarkeitsstudie war eine wichtige Grundlage der Antragsstellung, sie ist aber noch kein Masterplan, aus dem die weiteren Schritte abgeleitet werden könnten. Die weiteren Planungs- und Umsetzungsschritte bedürfen einer transparenten, dialogbasierten und breit abgesicherten konzeptionellen und finanziellen Planung und Beratung.
  2. Alle Module der geplanten Gedenkstätte (Forum, Besucherzentrum, Ausstellungsflächen, Arbeitsmöglichkeiten für Forschung und Vermittlung, der Außenbereich mit den Bestandsgebäuden und der Ehrenfriedhof) sind für uns unverzichtbare Bestandteile der zukünftigen Gedenkstätte. Die allenfalls langfristig erreichbaren Besucherprognosen dürfen nicht der Maßstab des Handelns und Erfolgs werden. Die Grünen regen deshalb an, im Rahmen des Architekt*innenwettbewerbs  in Bezug auf die auslastungsabhängigen Einrichtungen/Infrastrukturen Modelle für eine stufenweise Realisierung zu erarbeiten.                 
  3. Als Vorbereitung weiterer planerischen Schritte und eines Architekturwettbewerbs halten wir eine „Phase Null“ für erforderlich, in der die Anforderungen des praktischen Betriebs in Werkstattverfahren durch Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen diskutiert und geklärt werden. Hierbei soll die Expertise vergleichbarer Einrichtungen, die in jüngerer Zeit entstanden bzw. neu konzipiert worden sind, einbezogen werden.
  4. Von Anfang an ist ein Finanzcontrolling zu etablieren, das die finanziellen Risiken der Planung und Umsetzung im Auge hat und die Einhaltung des Baubudgets absichert. Hierdurch soll den (kommunalen) Trägern der Stiftung die notwendige Sicherheit bei der Finanzplanung gegeben werden. 
  5. Die nächsten Planungs- und Umsetzungsschritte müssen durch eine „Expert*innengruppe“ aus Wissenschaft und Gedenkstättenarbeit begleitet werden, die den politischen Entscheidungsträgern so lange beratend zur Seite steht, bis die Gedenkstätte ihre institutionelle Form gefunden hat.  Diese Expert*innengruppe soll mit einem Budget ausgestattet werden, um bereits jetzt die inhaltliche Planung entlang des Leitnarrativs  „Das Lager war überall“ voranzutreiben. Dazu gehört z.B. auch, die Einsatzorte in der Landwirtschaft und Industrie und das Leben der Kriegsgefangenen dort ins Bewusstsein zu heben. Mit Gründung der Stiftung und Bildung eines „Wissenschaftlichen Beirats der Stiftung“ beendet diese „Expert*innengruppe“ ihre Arbeit.

[1] vgl. Grünes Grundsatzprogramm, S. 10, 63/64, 73 und 100